Ulrike, geboren 1972 in Berlin (DDR):
Ich hatte als Kind lange Zeit (jahrelang? wann hat das aufgehört?) Schlafprobleme. Das sah einerseits so aus, daß ich mich in einer Weise auf die Seite legte, daß weder die Arme noch die Beine einander oder meinen Rumpf berührten. Ob ich meinen Kopf in die Armbeuge legte oder das Gesicht in die Hand, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich war ich in der Ausformung meiner zielgerichteten Schlafhaltung nicht so konsequent. Aber immerhin hatte ich mir Gedanken gemacht, wie ich das Verschmelzen meines Körpers zu einem bewegungsunfähigen Klumpen im Falle eines Atombombenabwurfs verhindern konnte. An meine Schwestern, die im gleichen Zimmer schliefen, habe ich wohl nicht gedacht. Ich weiß auch nicht, ob ich ihnen meine Überlegungen mitgeteilt habe. Denn ich war informiert: ich wußte von den enorm hohen Temperaturen, die in der Nähe der Abwurfstelle herrschen würden. Das Einschlafen in dieser Position war nicht so einfach, denn ich war aufmerksam, daß ich meine Stellung auch beibehalten würde, wenn ich dann endlich einschliefe.
Aus unserem Kinderzimmerfenster in der 9. Etage eines Neubaublocks in Berlin-Lichtenberg hatte man einen weiten Blick, denn der nächste parallel verlaufende Block war erst in einiger Entfernung aufgestellt. Wenn dort Flugzeuge flogen, konnte man ihren Weg eine ganze Weile verfolgen. Zogen wir Gardinen vor, wenn wir abends ins Bett gingen? Wahrscheinlich nur im Sommer, daher glaube ich, daß ich so von meinem Bett aus den Nachthimmel ziemlich oft beobachtet habe: die erleuchteten Fenster in den oberen Etagen des anderen Blocks, die Rauchfahne vom VEB Elektrokohle und ob sich am Himmel etwas bewegte, ob das Flugzeug käme, das meine Familie ins Verderben reißen würde. Erst heute fällt mir auf, daß ich dachte, daß die Atombomben immer noch von einem Flugzeug wie damals in Hiroshima abgeworfen würden. Dabei wären sie doch mit Raketen von Stützpunkten abgeschossen worden.
Und wenn ich schlief, hatte ich manchmal diesen Alptraum, den ich aber nicht mehr genau beschreiben kann: da gab es eine böse dünne Frau, mit blonden langen Haaren, die war irgendwie verkrüppelt, humpelte. War sie verschmolzen, war sie angebrannt? Und ich weiß nicht mehr wie, aber sie hat uns bedroht. Mein Traum spielte in unserem Kinderzimmer. An der Seite des Doppelschreibtisches - zwei Arbeitsplatten, die einander gegenüberstehen - war ein Regal. Viel Platz war da nicht, aber das war der Aufbewahrungsort für die Spielsachen meiner jüngeren Schwester, die im Rollbett neben mir schlief. Ihre Figuren, die sie immer aufräumen mußte, waren dort ordentlich aufgereiht. Die verkrüppelte Hexe und diese Figuren hatten irgendwie miteinander zu tun, oder ob sie die wegnehmen wollte? Auf jeden Fall war die Frau in unserem Kinderzimmer und sie war gekommen, nachdem die Bombe gefallen war. War sie mit der Bombe gekommen? Genauer kann ich mich nicht mehr erinnern.
Diese zwei Dinge haben dazu geführt, daß ich jahrelang schlecht schlafen konnte. Ich weiß nicht mehr, wann das aufgehört hat. Als ich in die frühe Pubertät kam und auch keine Angst mehr vor Hexen hatte? Oder ich habe angenommen, weil in der Zwischenzeit immer noch nichts passiert war, daß vielleicht doch nichts passieren wird. Jahrelang war ich mir sicher gewesen, daß eines Tages die Bombe fallen würde. Zum Beispiel war ich froh, wenn ich aus dem Ferienlager zurückkam und wieder bei meiner Familie war, denn ich wollte doch, daß wir in einem solchen Fall gemeinsam sterben würden. Ich wollte dann auf keinen Fall allein sein.
Wir hatten ein kleines Grundstück in Woltersdorf, wo unsere Familie fast jedes Wochenende verbrachte. Einmal waren nur mein Vater und ich dort. Ich schlief wie immer im Doppelstockbett unten, der Platz meiner jüngeren Schwester war auch hier das Rollbett, das tagsüber unter dem Doppelstockbett stand. Aber sie war ja nicht da. Mein Vater hatte sich oben hingelegt, wo sonst meine ältere Schwester schlief. Nachts wurde ich von Flugzeuggeräuschen wach. Das war sehr ungewöhnlich, denn über Woltersdorf flogen nie Flugzeuge. Das konnte eigentlich nur ein feindliches Flugzeug sein, das uns bedrohte. Ich lag wach und lauschte dem Flugzeug, das sich nicht entfernte, es kreiste wohl am Himmel. Ich wollte unbedingt meinen Vater fragen, was das ist. Ich hatte solche Angst, aber mein Vater war eine Respektsperson, ich traute mich nicht, ihn zu wecken, ihn mit meiner Angst, von der ich irgendwie auch wußte, daß sie kindisch war, zu nerven. Aber ich habe ihn dann doch gefragt, ob er das Flugzeug hört, was das zu bedeuten hat.
Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich ihm nicht von meiner Befürchtung erzählt habe. Überhaupt weiß ich gar nicht, ob meine Eltern wußten, wie es mir nachts erging, ob sie wußten, unter welcher schrecklichen Einbildung ich stand, wie fatal ich als etwa Zehnjährige 1982/83 dem Leben gegenüberstand, wie hoffnungslos.
Antje, geboren 1969 in Berlin (DDR):
Ich habe immer in den Kategorien ‚gut’ und ‚böse’ gedacht. Und die Stasi und der DDR-Staat waren für mich die Bösen. Ich mußte mich verstellen, sagen, was die in der Schule hören wollten, obwohl es mir falsch vorkam.
Ich glaube, die Angst vor dem Atomkrieg hat der DDR-Regierung genützt. Da waren sie die (vermeintlich) guten und der Westen war böse. Ich weiß gar nicht mehr genau, wann die Atombombe in der Schule zum Thema wurde. Wahrscheinlich in den Politdiskussionen am Mittwoch und im Stabü-Unterricht. (1) Da wurde ja der Sozialismus immer als Bewahrer des Friedens rausgestellt. Und wir müssen den Sozialismus stärken, weil der Kapitalismus uns sonst überfällt, unser Land und unsere Leute haben will.
Tante Britta und Onkel Peter, Tante Dora und Tante Vera vermittelten eher ein positives Bild vom Westen. "Gewissenlose politische Hetze", das wurde dem Westen vorgeworfen, aber der Osten hat gegen den Westen genauso gehetzt. Ich habe das nie an mich rankommen lassen, auf Durchzug geschaltet. Und um meine Ruhe zu haben, in der Schule gesagt, was sie hören wollten. Aber so platt, daß es offensichtlich war, daß ich skeptisch bin. Die Lehrer haben sich damit begnügt.
In der 8. oder 9. Klasse gab es die Ausstellung in der Marienkirche über Hiroshima und Nagasaki. Marens Mutter oder Ulrikes Eltern (die kirchlich engagiert waren) haben uns gefragt, ob wir das nicht zusammen ansehen wollen. Damals gab es die Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" und ich fand es toll, daß Maren und Ulrike die auf ihren Parkas hatten. Wie gesagt, es war eine kirchliche Veranstaltung. Ausstellungswände, Bilder und Texte. Und ein abgedunkelter Raum, in dem die Filme der ‚Zehn-Fuß-Bewegung’ gezeigt wurden. Da hatten Leute Geld gespendet (jeder für 10 Fuß Film), um den Amerikanern Filmmaterial abzukaufen. So habe ich es mir gemerkt. Weiß nicht, ob das stimmt. Es war ein Dokumentarfilm, Bildmaterial über die Abwürfe der Atombomben, und danach Geisterstädte, die Überlebenden wie Geister. Man sah die Schmerzen. Der zweite Teil der Ausstellung zeigte gezeichnete Bilder von Überlebenden. Da mußte ich rausgehen. Die Bilder haben mich mehr berührt als der Film. Alles war schrecklich, gemein und ohne Mitgefühl. Die Amerikaner haben einfach ihre Bombe ausprobiert.
Nach dem Filmmaterial die Zeichnungen zu sehen, wie die Menschen das Schreckliche darstellten, mitteilen und verarbeiten wollten, das hat mich sozusagen umgeworfen. Ich habe hysterisch geheult, Marens Mutter meinte, ich hätte einen Nervenzusammenbruch. Mir taten die Menschen so leid, ich konnte mir nicht vorstellen, wie man die Hitze und solche Schmerzen ertragen kann.
Von dem Tag an war die Atombombe für mich ein Thema, das mich berührte. In der Schule wurde, glaube ich, im Wehrkundeunterricht (2) aufgezeigt, in welchem Umkreis was passiert. Sie sagten, wenn man weiter weg ist, könne man überleben. Die dafür notwendigen Maßnahmen kamen mir albern vor. Ich wünschte mir, lieber gleich tot zu sein.
Die Angst vor dem Atomkrieg wurde geschürt. Und ich dachte an viele Bomben, an die totale Verstrahlung, den atomaren Winter. Ich wollte nicht überleben. Mit Stefanie habe ich auf dem Weg von der Schule nach Hause oft darüber gesprochen, was wir machen, wenn wir erfahren, jetzt haben die Amerikaner eine Atombombe losgeschickt. Wir wollten ganz schnell in einem Hochhaus nach oben und runterspringen. Wir wohnten da schon im Hans-Loch-Viertel. Ich war also 9. Klasse. Ich habe mir das so oft vorgestellt, von einem Hochhaus zu springen, daß ich glaubte, ich könnte es wirklich. Ich hatte keine Angst zu sterben, ich hatte Angst vor Schmerzen. Für mich ist Selbstmord bis heute nichts Schlimmes. Es ist eine freie Entscheidung, weil man etwas anderes nicht aushalten will. Ich wollte keine Schmerzen aushalten. Daß mein verbranntes Fleisch in Fetzen an meinen Knochen hängt, ich mich langsam auflöse. Den Schmerz und den Durst. In dem Film sind die Menschen zum Fluß gerannt, der aber nicht mehr da war. Das Flußbett war voller Leichen.
Nach diesen Filmen waren die Amerikaner für mich die Bösen. Das Wettrüsten habe ich mitbekommen. Aber ich war in meinen Gefühlen zwiespältig. Ich hatte Angst, daß wir angegriffen werden, und gleichzeitig traute ich den Absichten des Ostblocks nicht. Wir guckten ja schließlich Westfernsehen. Und der Sozialismus stellte ja die Behauptung auf, er wäre die bessere Gesellschaftsordnung und würde die Welt "erobern". Ich kann heute noch den Satz auswendig: Wir leben in einer Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.
Die Angst vor der Atombombe habe ich fast vergessen. Obwohl es die Bomben immer noch gibt. Ich beschäftige mich nicht intensiv mit Politik, habe eine Abneigung gegen Nachrichten. Ich kriege alles eher am Rand mit. Ich will gar nicht richtig wissen, was los ist, will keine Angst kriegen. Ich habe sozusagen Angst vor der Angst. Verdränge meine Ängste.
(1) Staatsbürgerkunde.
(2) 1978 beschloß das Ministerium für Volksbildung die Einführung des Wehrunterrichts für die Klassen 9 und 10 der allgemeinbildenden Schulen für eine "systematische und planmäßige Vorbereitung der Jugendlichen auf die Anforderungen des Wehrdienstes und der Zivilverteidigung" (Direktive des Ministeriums für Volksbildung zur Einführung und Gestaltung des Wehrunterrichts an den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen zitiert nach: In Linie angetreten, die Volksbildung der DDR in ausgewählten Kapiteln, Berlin 1996, S. 261.)