Yilmaz Dziewior: Geschichte entsteht aus Geschichten

Erschienen im Katalog zur Ausstellung „Nur Hier – Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland. Ankäufe von 2007 bis 2011“ in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 2013, S. 131 ff.
Kontext und Geschichte, Ausstellungsraum und eine spezifische historische Gegebenheit sind auch Aspekte der Arbeit von Ulrike Kuschel, Gleichschaltung – Nicht Zutreffendes bitte durchstreichen, von 2007. Der Kontext ist in diesem Fall augenscheinlich die Stadt Heidelberg, in deren Kunstverein die Ausstellung stattfand, für die das Werk von Kuschel entstand. Zumindest deutete ihr Titel, Ricarda Huch war oft in Heidelberg, darauf hin. Unterstützt wird dieser Eindruck durch ein Foto im Einladungsheft, das Ricarda Huch vor dem Palais Weimar in Heidelberg zeigt. Ebenfalls dort abgebildet ist eine „vertrauliche“ Umfrage aus dem Jahr 1933 unter den Mitgliedern der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Im Zuge der sogenannten „Gleichschaltung“ nach der Machtübergabe der Nationalsozialisten erging an alle Mitglieder folgende Frage, die, genau betrachtet, wohl eher eine Aufforderung darstellte: „Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage.“ Für ihre Arbeit schrieb Ulrike Kuschel dieses Schriftstück gemäß der Anzahl der Mitglieder der Sektion 28 Mal mit der Schreibmaschine ab und strich jeweils analog zur tatsächlichen Reaktion der angeschriebenen Schriftsteller entweder das „Nein“ oder das „Ja“ durch beziehungsweise ließ die Frage unbeantwortet. Dass 21 von 28 zur Unterstützung der Nationalsozialisten bereit waren, ist nur eine der traurigen Erkenntnisse dieser Arbeit. Während Alfred Döblin, Thomas Mann und eben Ricarda Huch mit „Nein“ reagierten, erstaunt es nicht wenig, dass sich ein Schriftsteller wie Gottfried Benn für die neuen Machthaber stark machte. (2)
Kuschel paart die „vertrauliche“ Umfrage jeweils mit einer Auflistung aller Mitglieder, aus der hervorgeht, wer an der Sitzung, in der das Schreiben verfasst wurde, teilnahm, wer wann und wie darauf antwortete, und der Information, wer zu welchem Zeitpunkt aus der Akademie entlassen wurde. Letzteres Datum bezeugt, dass weniger als zwei Monate nach der Reaktion auch solche Literaten ausgeschlossen wurden, die bereit waren, „loyal“ zu sein. Dies schützte sie offenbar nicht vor der Willkür der Regimes.
Wie sehr Geschichte – sowohl die eines Einzelschicksals als auch die öffentlich-politische – von Zufällen geprägt ist, belegt die sich ebenfalls in der Sammlung Zeitgenössische Kunst der Bundesrepublik Deutschland befindliche Arbeit von Ulrike Kuschel mit dem Titel Im Gedenken an (Abb. S. 122/123). Sie entstand 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 2009. Die Arbeit besteht aus faksimilierten Wiederabdrucken von 29 Jahreskalendern aus dem Zeitraum von 1961 bis 1989, also genau der Zeit, in der Ost- und West-Berlin durch die Mauer voneinander getrennt waren. Diese von Kuschel gefundenen, noch mit Notizen ihrer ursprünglichen Besitzer versehenen Kalender wurden als Beilagen von Tageszeitungen verbreitet und dienten vor allem dazu, die offiziellen Gedenk- und Feiertage der DDR in Erinnerung zu rufen. Kuschel addiert in ihrer Arbeit zu den privaten Notizen und den offiziellen Angaben Namen von Personen, die bei Fluchtversuchen an der Mauer starben. Die von ihr mit Schreibmaschine getippten Namen platziert sie genau an den Tag, an dem diese beim Versuch des Verlassens der DDR umgebracht wurden.
Neben dieser Vielzahl an historischen Fakten evozieren beide hier erwähnten neokonzeptuellen Arbeiten von Ulrike Kuschel auch grundsätzliche Fragen vom Verhältnis von Kunst und Politik und sezieren durch die Art ihrer zutiefst sachlichen Präsentation und Aufarbeitung des Materials die Vergangenheit. In dieser Form stellt sie ideologische Gewissheiten in Frage und nutzt nur scheinbar historiografische Strategien, um über das konkrete Ereignis hinaus Fragen von (politischer und kultureller) Zugehörigkeit zu stellen.
Nebenbei öffnen sich auch Bezüge zu ihrer eigenen Position, waren doch zum Beispiel bei Gleichschaltung – Nicht Zutreffendes bitte durchstreichen lediglich zwei der Literaten Frauen. (3) In beiden Werken verbindet darüber hinaus der Bezug zu Berlin, dem Geburts- und Wohnort Kuschels, das Historische mit dem Persönlichen. (…)


(2) Benn wurde nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten zum Nachfolger Heinrich Manns als kommissarischer Vorsitzender der Sektion ernannt und verantwortete zusammen mit Max von Schillings die Loyalitätsaufforderung im Sinne des nationalsozialistischen Regimes.
(3) Neben Huch zählte noch die den Nationalsozialisten während derer Regierung sehr nahe stehende Ina Seidel zu den damaligen Mitgliedern.

zur Ausstellung »Ricarda Huch war oft in Heidelberg«, Kunstverein Heidelberg 2007