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Kontext und Geschichte,
Ausstellungsraum und eine spezifische historische Gegebenheit sind auch Aspekte
der Arbeit von Ulrike Kuschel, Gleichschaltung – Nicht Zutreffendes bitte
durchstreichen, von 2007. Der Kontext ist
in diesem Fall augenscheinlich die Stadt Heidelberg, in deren Kunstverein die
Ausstellung stattfand, für die das Werk von Kuschel entstand. Zumindest deutete
ihr Titel, Ricarda Huch war oft in Heidelberg, darauf hin. Unterstützt wird dieser Eindruck durch
ein Foto im Einladungsheft, das Ricarda Huch vor dem Palais Weimar in
Heidelberg zeigt. Ebenfalls dort abgebildet ist eine „vertrauliche“ Umfrage aus
dem Jahr 1933 unter den Mitgliedern der Sektion für Dichtkunst der Preußischen
Akademie der Künste. Im Zuge der sogenannten „Gleichschaltung“ nach der
Machtübergabe der Nationalsozialisten erging an alle Mitglieder folgende Frage,
die, genau betrachtet, wohl eher eine Aufforderung darstellte: „Sind Sie
bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre
Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine
Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die
Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß
der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der
veränderten geschichtlichen Lage.“ Für ihre Arbeit schrieb Ulrike Kuschel
dieses Schriftstück gemäß der Anzahl der Mitglieder der Sektion 28 Mal mit der
Schreibmaschine ab und strich jeweils analog zur tatsächlichen Reaktion der
angeschriebenen Schriftsteller entweder das „Nein“ oder das „Ja“ durch
beziehungsweise ließ die Frage unbeantwortet. Dass 21 von 28 zur Unterstützung
der Nationalsozialisten bereit waren, ist nur eine der traurigen Erkenntnisse
dieser Arbeit. Während Alfred Döblin, Thomas Mann und eben Ricarda Huch mit
„Nein“ reagierten, erstaunt es nicht wenig, dass sich ein Schriftsteller wie
Gottfried Benn für die neuen Machthaber stark machte. (2)
Kuschel paart die „vertrauliche“
Umfrage jeweils mit einer Auflistung aller Mitglieder, aus der hervorgeht, wer
an der Sitzung, in der das Schreiben verfasst wurde, teilnahm, wer wann und wie
darauf antwortete, und der Information, wer zu welchem Zeitpunkt aus der Akademie
entlassen wurde. Letzteres Datum bezeugt, dass weniger als zwei Monate nach der
Reaktion auch solche Literaten ausgeschlossen wurden, die bereit waren, „loyal“
zu sein. Dies schützte sie offenbar nicht vor der Willkür der Regimes.
Wie sehr Geschichte – sowohl die
eines Einzelschicksals als auch die öffentlich-politische – von Zufällen
geprägt ist, belegt die sich ebenfalls in der Sammlung Zeitgenössische Kunst
der Bundesrepublik Deutschland befindliche Arbeit von Ulrike Kuschel mit dem
Titel Im Gedenken an (Abb. S. 122/123).
Sie entstand 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 2009. Die Arbeit
besteht aus faksimilierten Wiederabdrucken von 29 Jahreskalendern aus dem
Zeitraum von 1961 bis 1989, also genau der Zeit, in der Ost- und West-Berlin
durch die Mauer voneinander getrennt waren. Diese von Kuschel gefundenen, noch
mit Notizen ihrer ursprünglichen Besitzer versehenen Kalender wurden als
Beilagen von Tageszeitungen verbreitet und dienten vor allem dazu, die
offiziellen Gedenk- und Feiertage der DDR in Erinnerung zu rufen. Kuschel
addiert in ihrer Arbeit zu den privaten Notizen und den offiziellen Angaben
Namen von Personen, die bei Fluchtversuchen an der Mauer starben. Die von ihr
mit Schreibmaschine getippten Namen platziert sie genau an den Tag, an dem diese
beim Versuch des Verlassens der DDR umgebracht wurden.
Neben dieser Vielzahl an
historischen Fakten evozieren beide hier erwähnten neokonzeptuellen Arbeiten
von Ulrike Kuschel auch grundsätzliche Fragen vom Verhältnis von Kunst und
Politik und sezieren durch die Art ihrer zutiefst sachlichen Präsentation und
Aufarbeitung des Materials die Vergangenheit. In dieser Form stellt sie ideologische
Gewissheiten in Frage und nutzt nur scheinbar historiografische Strategien, um
über das konkrete Ereignis hinaus Fragen von (politischer und kultureller) Zugehörigkeit
zu stellen.
Nebenbei öffnen sich auch Bezüge
zu ihrer eigenen Position, waren doch zum Beispiel bei Gleichschaltung –
Nicht Zutreffendes bitte durchstreichen
lediglich zwei der Literaten Frauen. (3) In
beiden Werken verbindet darüber hinaus der Bezug zu Berlin, dem Geburts- und
Wohnort Kuschels, das Historische mit dem Persönlichen. (…)
(2) Benn wurde nach der Machtübergabe an die
Nationalsozialisten zum Nachfolger Heinrich Manns als kommissarischer
Vorsitzender der Sektion ernannt und verantwortete zusammen mit Max von Schillings
die Loyalitätsaufforderung im Sinne des nationalsozialistischen Regimes.
(3) Neben Huch zählte noch die den Nationalsozialisten
während derer Regierung sehr nahe stehende Ina Seidel zu den damaligen
Mitgliedern.
zur Ausstellung »Ricarda Huch war oft in Heidelberg«, Kunstverein Heidelberg 2007
zur Ausstellung »Ricarda Huch war oft in Heidelberg«, Kunstverein Heidelberg 2007