Erschienen
in: Eva Schmidt, Ines Rüttinger (Hrsg.): Lieber Aby Warburg, was tun mit
Bildern?, Kehrer Berlin/Heidelberg, 2012, S. 189 ff.
Wer in einer Ausstellung eine
Fotografie und einen daneben gestellten Text vorfindet, geht unbewusst einen
Pakt mit dem für die Ausstellung verantwortlichen Kurator oder Künstler ein.
Man vertraut, dass der Text unmittelbar Bezug auf den Inhalt der Fotografie
nimmt, und dass er das dargestellte erläutert. Der Text, so die Erwartung, soll
die Verantwortung dafür übernehmen, das Bild selbst zu entschlüsseln. Die
Autorität der Institution, in der die Ausstellung stattfindet, verleitet meist
dazu, diesen ungeprüft hinzunehmen.
Gerade jetzt greift wohl der
gleiche Mechanismus. Sie erwarten, dass ich als Auto eines Textes über das Werk
Bildbeschreibungen von Ulrike Kuschel,
in dem die in Berlin lebende Künstlerin sechzig schwarz-weiße Fotografien mit
je einem Text zusammengefasst hat, Ihnen eine Beschreibung liefere, die das
Verständnis des Werkes so erleichtert, dass womöglich keine eigene
Auseinandersetzung mit der Arbeit nötig ist. Man kann die Erwartung auf eine
Kulturtechnik des Ausstellens und der kunsttheoretischen Beschreibung von
Kunstwerken zurückführen, die mit der allmählichen Herausbildung des modernen
Museums und der wissenschaftlichen Disziplin der Kunstgeschichte seit dem 19.
Jahrhundert einhergeht. Der Titel Bildbeschreibungen deutet darauf hin, dass diese Kulturtechnik selbst
einen zentralen Bestandteil des Werkes ausmacht, und dass der beschreibende
Text kein neutrales Medium zur Vermittlung von Inhalten ist, sondern zu einer
eigenen Auseinandersetzung mit dieser Kategorie von Texten anleiten soll.
Damit steht diese Arbeit von
Ulrike Kuschel in einer Tradition von Kunstwerken, die seit den 1960er Jahren
auf unterschiedliche Art und Weise die institutionelle Praxis des Ausstellens
selbst thematisiert haben, indem sie durch Verschiebung und Irritation der
Wahrnehmung die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die Art lenkt, wie Inhalte
vermittelt und damit auch wahrgenommen werden. Der belgische Künstler Marcel
Broodthaers schuf von 1968 bis 1972 das teil imaginäre Musée d’Art Moderne.
Department des Aigles, in der alle darin
enthaltenen Objekte und Darstellungen von Adlern mit der Bezeichnung „Fig1“,
„Fig.2“ usw. ausgestattet sind. Durch die Nummerierung wurden die Objekte ihrer
physischen Präsenz beraubt und in symbolische Figuren umgewandelt, denen durch
die übergeordnete Systematik der musealen Ordnung ihr Sinn gegeben wird. Marcel
Broodthaers hat also die Kulturtechnik der Museums genutzt, um einen Raum für
die Reflexion über diese Institution zu öffen.
Ulrike Kuschel geht es jedoch
nicht in erster Linie um das Ordnungssystem des Museums. Wie in zahlreichen
Arbeiten der Künstlerin ist die übergeordnete Systematik des Archivs im
Allgemeinen und des Bildarchivs im speziellen ihr Gegenstand. So beschreiben
die Texte im Werk sechzig Bilder aus dem Archiv Ullsteinbild, in dem die
Künstlerin seit Jahren tätig ist. Die damit zusammen präsentierten Fotografien
wurden aber von der Künstlerin außerhalb des Archivs gefunden und in einem weiteren
Schritt mit Beobachtungen kombiniert, die Kuschel in der Ich-Perspektive
verfasst hat. Jedes Bild-Text-Paar ist ferner mit einem Datum aus dem Jahre
2005 versehen, wie zum Beispiel 11.05.2005.
Schon dabei entsteht eine erste Irritation, da das Datum sich nicht objektiv
auf die Fotografie selbst bezieht, sondern auf die subjektive Beobachtung der
Künstlerin, die in den Datumsaufschriften festgehalten werden.
Im Bild-Text-Paar mit der
Überschrift 11.05.2005 findet man die
Information, dass es sich um einen Außenansicht des Reichstagsgebäudes um 1905
handelt, auf der ein Denkmal von Bismarck, dem ersten Kanzlers des Deutschen Reiches, im
Vordergrund zu sehen ist. Ein kurzer Blick auf die Fotografie scheint diese
Information zu bestätigen. Tatsächlich ist das heute als Deutscher Bundestag
bekannte Gebäude zu sehen, jedoch ohne die heute so prägnante Glaskuppel, dafür
mit der ursprünglichen Dachkonstruktion. Vor dem Gebäude ist auch tatsächlich
ein Denkmal zu erkennen, das bei näherem Hinsehen eine männliche Figur in einer
Gestalt darstellt, die Bismarck sein könnte. Der Pakt zwischen Betrachter und
Autorin über die Funktionsweise einer Bildbeschreibung scheint also
wiederhergestellt sein, nach dem ersten leichten Zweifeln, das sich aus der
Titelgebung gegeben hat. Die ersten zwei Absätze geben Informationen zu den Fotografen,
den Gebrüdern Haeckel, wieder, und auch der zweite Absatz irritiert die
eingekehrte Ruhe des Lesers und Betrachters nicht. Vielleicht hört dieser schon
jetzt auf zu lesen, weil er meint, den restlichen Inhalt des Textes vorausahnen
zu können. Wer jedoch den dritten Absatz aufmerksam liest, muss stutzig werden.
Von ein paar Damen in dunklen Kleidern ist die Rede, einige Kinder und ein
Kindermädchen werden auch beschrieben. Letztere soll sogar einen Kinderwagen
durch die menschenleere Szenerie der Aufnahme schieben. Die kleinen Figuren
bilden angeblich einen großen Kontrast zu der übermächtig wirkenden männlichen
Figur des Denkmals. Die Künstlerin hat also offenkundig den Pakt zwischen
Betrachter und Autorin wieder aufgekündigt.
Gespannt liest man weiter oder
wendet sich einem zweiten Bild-Text-Paar zu. Nach drei oder vier Stichproben
mag man festgestellt haben, dass die Künstlerin mit den Beschreibungen ein
eigenartiges Spiel treibt. Diese scheinen auf keinen Fall vollkommen zufällig
zu sein, und dennoch weichen sie unterschiedlich stark von den Aufnahmen ab.
Die Beschreibung eines Hauses
zum Beispiel, das 1945 kurz nach der Kapitulation mit Ziegeln von
Trümmerhäusern wieder aufgebaut wurde, scheint gut mit der entsprechenden
Aufnahme zu korrespondieren, bis plötzlich Personen, die Maurer, so detailreich
beschrieben werden, dass diese unmöglich mit der einen winzig kleinen Figur auf
dem Bild in Einklang gebracht werden können. Die Tribüne des Reichstagsgeländes
in Nürnberg wird in einem anderen Text eingehend beschrieben, auch Hitler
selbst wird vor den Fahnen stehen beschrieben. Die dazugestellte Aufnahme ist
aber eine aus großer Distanz aufgenommene Luftaufnahme des Nürnberger Aufmarschgeländes,
auf der Hitler, selbst wenn er zum Zeitpunkt der Aufnahme anwesend gewesen
wäre, wohl kaum auszumachen wäre. Immer wieder schlittert die Wahrnehmung des
Betrachters zwischen Text und Bild hin und her, angeleitet durch Ähnlichkeiten,
die sich zu decken scheinen, und auffälligen Widersprüchen, die die Konvention
einer Bildbeschreibung eindeutig unterlaufen.
Schließlich versteht der
Betrachter, dass die Künstlerin durchaus reale Aufnahmen in ihren Bildbeschreibungen zum Leben erweckt, Aufnahmen, die vielleicht aus der
gleichen Zeit wie die Abbildungen stammen, aber eine andere Situation, eine
andere Perspektive oder manchmal sogar ein vollkommen anderes Motiv darstellen.
Aber wodurch kann man sich überhaupt sicher sein, dass die scheinbar faktischen
Informationen auch historische Tatsachen wiedergeben? Wo verläuft die Grenze
zwischen ungefährem Wissen und unwiderlegbaren Fakten? Ulrike Kuschel nimmt die
Konvention der Bildbeschreibung als Ursprungspunkt, um produktiv das Vertrauen
zu hinterfragen, das dem Bildarchiv als korrektes Abbild historischer Fakten
entgegengebracht wird. Sie schafft neue alternative Wahrheiten und verweist
derart auf die grundlegende Subjektivität von Fakten. Die Künstlerin Ulrike
Kuschel verstellt unseren unbeschwerten Blick auf das Ordnungssystem des
Bildarchivs.
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