20. März 2014

»pictorial photography (Russlandbilder)«, 1997




»Schöne Welt«, mit Antje Majewski und Andrea Rostasy, Neuer Berliner Kunstverein, 1997

Friedrich Meschede: Wäre die Welt so schön wie heute

Aufnahmen aus Novgorod, Balaklava, Sevastopol, Suzdal, nordöstlich von Moskau gelegen, führen uns in Landschaften, die nicht zu den populären Reisezielen gehören, aber es sind Orte mit historischer Tradition. (…) Ulrike Kuschel (ist) bestrebt, die Landschaften als ein Kontinuum von Zonen und Bereichen darzustellen. Sie lädt mit ihrem Betrachterstandort ein, in die Landschaft zu gehen, weil für Ulrike Kuschel die Photographie ein Medium ist, unterwegs zu sein; der Betrachter wird an der Wanderung beteiligt. In diesem Zusammenhang ist eine Hafenansicht oder Stadtvedute Ort und Station zugleich, das Bild ein Moment der Annäherung dahin. Ulrike Kuschel erzielt diese Wirkung durch einen Bildaufbau bzw. Bildausschnitt, der an überlieferten Werken der Malerei orientiert ist und die künstlerischen Schemata der Komposition nun in der Landschaft wiederfindet. Der perspektivische Aufbau des Ausschnitts ist von »Fluchtpunkten« bestimmt, die in der landschaftlichen Wirklichkeit Zielorte darstellen, an denen die Reise ruht; die Wanderung wird angehalten, um den Momenten Dauer zu verleihen. Es sind Augenblicke der Vergewisserung, denn diese Kulturlandschaften, die Ulrike Kuschel bereist, zeigen plötzlich ihre »Fehlstellen«, wie Ulrike Kuschel es nennt. Einst befanden sich dort Siedlungen, Klöster, Straßen, Mahnmale, heute weisen diese Stätten nur noch Fragmente davon auf, die Bedeutung ist überwachsen von Natur; die Landschaft wird zu einer zweiten Natur auf historischem Boden, worin die Figuren, die in den Bildern von Ulrike Kuschel zu sehen sind, wie bedächtige Wanderer wirken, die diesen Spuren nachzugehen suchen. Die vermeintlich intakte Landschaft, die uns vorgetäuscht wird, kann als ein ganz anderer Ort im Kopf entschlüsselt werden, die sprachlich-historische Zeit des Ortes wandelt sich zu einer bildnerischen Zeit der Wahrnehmung. Es ist die nachdenkliche Stille in den Bildern von Ulrike Kuschel, immer in einem Schwebezustand zwischen Melancholie und Apathie gehalten, tageszeitlich gesprochen ist es die Dämmerung, die Ulrike Kuschel in ihren Photographien festhält, wobei es auch hier wieder unbestimmt bleibt, ob es sich zum Morgen oder zum Abend hin wendet. So wie diese Tageszeit immer einen Übergang beschreibt, dessen Ausdruck man dauerhafter erhalten möchte, weil Licht- und Wettererscheinungen dramatisch lebendig wirken, so entspricht auch das Medium Photographie diesem Phänomen, dem unwirklichsten Moment im Realen Bestand verleihen zu wollen, die zeitliche Fehlstelle noch gerade sichtbar werden zu lassen.

Katalog »Schöne Welt«, Hrsg.: Neuer Berliner Kunstverein, 1997 , S. 10-11.










»belonging – Sehnsucht und Zugehörigkeit«, Shedhalle Zürich, 2001